So wollen Pferde leben

Wer mag – so wie beispielsweise ich – in einem 500-Seelen-Ort leben? In dem es keine Bank, keine Post, keine Apotheke, keinen Lebensmittelladen gibt? Keine Schule und keinen Kindergarten? Ringsherum waldige Hügel, viel Wind, viel Regen, viel Natur pur, aber sonst eben nichts? Oder wer zieht es vor, mitten im Getümmel und Lärm einer Großstadt zu wohnen, umgeben von einem Gewusel gleichgültiger Leute? Wer mag offene Kamine und Fachwerk, wer zieht Solarzellen und Glasfronten vor? Jeder Mensch drückt dem eigenen Zuhause den Stempel seiner Individualität auf. Selbst wer scheinbar konventionell, spießig wohnt und lebt, tut dies bewusst und nicht zufällig, denn auch völlige Anpassung ist ein aktiver Prozess, kein passiver Zustand. Doch die scheinbare Vielfalt ist eine rein äußerliche, in bestimmten Punkten nämlich gleichen sich alle menschlichen Behausungen, zumindest die in unserem Kulturkreis:

  • Sie schützen vor Niederschlägen, Sonne und Wind;
  • Fenster lassen natürliches Licht einfallen;
  • eine Heizung hält die Innentemperatur zu jeder Jahreszeit in angenehmen Bereichen;
  • verschließbare Türen regulieren den Zugang und
  • wir nehmen eine Einteilung in unterschiedliche Funktionsbereiche (Essen, Schlafen, Freizeitgestaltung) vor.

Ob Blümchentapete oder Rauhfaser weißgestrichen, ob röhrender Hirsch oder Rizzi überm Sofa, in diesen Punkten sind alle unsere Wohnungen gleich. Einrichtung, landschaftliche Lage und soziales Umfeld mögen individuell verschieden sein, die typisch menschlichen Ansprüche an die eigenen vier Wände sind immer dieselben.

Unsere Pferde haben ebenso genaue Vorstellungen von ihrem Stall wie wir von unserer Wohnung. Wir menschlichen Höhlenbewohner mit unseren tierartspezifischen Eigenschaften dürfen jedoch die Bedürfnisse des steppenbewohnenden Fluchttiers Pferd nicht vom eigenen Standpunkt aus betrachten, sondern müssen erkennen, dass hier grundverschiedene Ansprüche vorliegen. Mit anderen Worten: Wer das Lebensumfeld seiner Pferde so gestaltet, dass er selbst sich darin wohl fühlen würde, liegt völlig falsch.

Typisch Pferd, typisch Mensch

Immer noch wird die Mehrzahl aller Pferde so aufgestallt, dass ihre Grundbedürfnisse nicht einmal näherungsweise erfüllt werden. Schuld daran sind nicht etwa böse Reiter, die ihre Vierbeiner bewusst einem lebensfeindlichen Umfeld aussetzen, sondern Unwissenheit und das Vorherrschen einer antropomorphen Sichtweise beim Pferdehalter. Sprich: Entweder kennt er die pferdetypischen Bedürfnisse nicht oder er überträgt unzulässiger Weise eigene Wünsche und Vorstellungen von Sicherheit und Komfort aufs Pferd. Selbst namhafte Forscher unterliegen teilweise derlei Fehleinschätzungen: So wurde schon behauptet, das Pferd betrachte seine Box als „Revier zweiter Ordnung“, so wie Raubtiere dies bezüglich der Manege eines Zirkus tun – allerdings gehören Pferde nicht zu den revierbildenden Tierarten…

Um unseren Pferden also einen ihren tierartspezifischen Bedürfnissen entsprechenden Lebensraum bieten zu können müssen wir

  1. unsere Pferde als grundverschieden von uns selbst erkennen und
  2. möglichst viel über ihre pferdetypischen Bedürfnisse und Vorlieben in Erfahrung bringen.

Wie also wollen Pferde leben? Darüber wissen wir eine ganze Menge, und wir wissen auch, wie sie nicht leben wollen – eingesperrt in einer Box. Während sich keine wirklich stichhaltige Begründung für die Notwendigkeit der Boxenhaltung oder für deren angebliche Artgerechtheit anführen lässt, kann logisch begründet werden, warum „Box“ und „artgerecht“ tatsächlich unvereinbare Gegensätze sind. Dazu muss man sich allerdings näher mit dem beschäftigen, was für unsere Pferde zu einem erfüllten Leben dazu gehört. Wer Pferde wirklich liebt, nimmt sie mit allen ihren arttypischen und individuellen Eigenschaften an und wird sich über ihre wichtigsten Bedürfnisse informieren. Nicht zufällig gehört dieses Wissen zum Prüfungsstoff des „Basispass Pferdekunde“, einem Abzeichen, gedacht für die jüngsten unter den Pferdefreunden.

Die allen Pferden gemeinsamen Bedürfnisse sind schnell aufgezählt. Pferde brauchen

  • unbegrenzt viel frische Luft,
  • natürliches Licht,
  • dauerhaft die Möglichkeit zu und Anregung für freie Bewegung und
  • unbegrenzten direkten Kontakt mit Artgenossen

um sich wohl zu fühlen. Ganz klar: Keines dieser Bedürfnisse kann unter den Bedingungen der Boxenhaltung erfüllt werden. Denn:

Frische Luft ist unbelastet von Schadgasen, weitgehend staubfrei, bewegt und folgt der Außentemperatur. Im geschlossenen Stall sammeln sich durch die Atmung und die Ausscheidungen der Pferde Schadgase von Kohlendioxid bis Ammoniak an, die Luftfeuchtigkeit ist hoch, die Luft (wegen des Schreckgespenstes „Zugluft“) so gut wie unbewegt und zudem viel zu warm. Die Folge sind mangelnde Leistungsfähigkeit, unheilbare Lungenerkrankungen und ein ungeübtes Thermoregulationssystem, das dann wirklich vor dem lauesten Lüftchen kapituliert. Weder Kälte noch Nässe schaden unseren Pferden, auch an einer dicken Schlammschicht nach dem Wälzen ist noch nie ein Ross erkrankt, lediglich wir Menschen finden so eine Panade igitt. Während wir uns also beim Anblick eines fröhlich eingesauten Offenstallpferdes schütteln denken wir uns nichts dabei, unser quietschsauberes und am besten noch eingedecktes Pferd in seinen eigenen Ausscheidungen stehen zu lassen -verkehrte Welt.

Licht heißt Sonnenlicht pur, nicht Dämmerstimmung im trüben Stall, erhellt von ein paar Glühbirnen oder allenfalls aus vergitterten, verdreckten und natürlich stets verschlossenen Fensteröffnungen in die Box dringendes Tageslicht. Sonnenlicht nimmt direkten Einfluss auf das Fruchtbarkeitsgeschehen, auf die Immunabwehr, die Bildung stabiler Knochenstrukturen und nicht zuletzt auf die Psyche unserer Pferde. Auch an bewölkten, für unser Empfinden lichtlosen Tagen ist diese Wirkung nachweisbar. Der dauernde Aufenthalt im Freien ist also für die Gesundheit, Belastbarkeit und das Wohlbefinden aller Pferde von entscheidender Bedeutung.

Bewegung im Sinne einer artgerechten Fortbewegung bedeutet nicht etwa eine halbe bis eine Stunde Arbeit unter dem Sattel, sondern stundenlanges, langsames Gehen im Schritt. Genau dies hat die Natur für unsere Pferde vorgesehen: Als steppenbewohnende Grasfresser legten die Vorfahren unserer domestizierten Pferde täglich bis zu dreißig Kilometer im langsamen Weideschritt zurück, dabei mit tiefem Kopf im Ausfallschritt grasend. Bis zu 16 Stunden verbrachten sie so in langsamer Bewegung, nur auf der Flucht, bei Auseinandersetzungen innerhalb der Herde oder beim Spiel wurden ein bis zwei Gänge hoch geschaltet. Die natürlichste Gangart aller Pferde ist also der Schritt. Fehlt diese stundenlange, gemütliche Fortbewegung, leidet insbesondere der Tragapparat: Die Gelenke werden unzureichend geschmiert, die Muskulatur wird mangelhaft durchblutet. Auch der Kreislauf und der Verdauungstrakt unserer Pferde benötigen für seine ungestörte Funktion viele, über den Tag verteilte, kleine Bewegungsimpulse.

Kontakt zu Artgenossen darf sich nicht auf Nasenkontakt durch eine Gitterwand beschränken. In Bezug auf den Stellenwert ihrer Sozialkontakte dürfen Pferde ausnahmsweise mit uns Menschen verglichen werden. Ein Großteil ihrer Verhaltensmuster kann nur im unmittelbaren Kontakt mit Artgenossen ablaufen und ist zudem oft an Bewegung gebunden, ein isoliert und bewegungsarm aufgestalltes Pferd leidet also in doppelter Hinsicht daran, dass es seine angeborenen Verhaltensweisen nicht ausleben kann. Es entsteht ein so ungeheurer Druck, dass ihm als Ausweg nur die völlige Resignation oder die Entwicklung von Verhaltensstörungen bleiben, Ventile für den Stress der Langeweile. Welche Qualen die erzwungene Untätigkeit für ein Pferd bedeuten, ist dem Besitzer eines solch armen Tieres meist überhaupt nicht bewusst, da die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Nur wer Gelegenheit hat, Pferde in einem annähernd natürlichen Lebensumfeld ausgiebig zu beobachten, kann den Stellenwert sozialer Kontakte überhaupt ermessen.

Was Pferde wirklich brauchen

Ausnahmslos alle Pferde, ausdrücklich also auch Hengste und warm – oder vollblütige Sportpferde, können und sollten im Offenstall leben dürfen, möglichst im Herdenverband. Einige, wenige Betriebe mit Vorbildfunktion praktizieren diese einzig wirklich artgerechte Haltungsform auch mit den Pferden, für die ihre Besitzer so gerne eine Sonderrolle beanspruchen wollen, mit Warmblütern. Das warmblütige Turnierpferd, so wird immer gerne argumentiert, lässt sich nicht im Offenstall halten. Dort leidet es unter Krankheiten, Verletzungen und Muskelverspannungen, entwickelt ein langes Zottelfell und verliert natürlich auch an Leistungswillen und Ausstrahlung, Eigenschaften, ohne die im großen Sport bekanntlich nichts geht. Viel besser ist das sensible Leistungspferd in einer warmen, sicheren Box untergebracht, in der es sich von den Anstrengungen des Trainings erholen kann, nicht von unleidlichen Artgenossen gepiesackt wird und die Pflege genießt, die ein Hochleistungssportler eben braucht. Alles Scheinargumente, die einer sachlichen Betrachtung nicht standhalten. Die Einteilung in offenstallkompatibles Freizeitreiter-Zottelpony und zartbesaitetes Muss-Boxenpferd warmen Geblüts ist eine willkürliche, nicht auf der Grundlage beweisbarer Fakten vorgenommene. Vielmehr lassen sich zwar durchaus einige (wenige) Unterschiede im Verhalten, in der sozialen Verträglichkeit, der Wetterhärte oder anderer Merkmale zwischen den Nachkommen der vier Urpferde-Typen (Ur-Vollblüter, Ur-Warmblüter, Ur-Kaltblüter, Ur-Pony) nachweisen, doch überwiegen die Gemeinsamkeiten, insbesondere hinsichtlich der Grundbedürfnisse. Bei sachgerechter Offenstallhaltung treten Probleme wie Erkrankungen, Verletzungen und Verspannungen nicht häufiger, sondern signifikant seltener auf als bei Boxenhaltung; Unterschiede zwischen Turnierpferden und nicht auf Turnieren oder anderen Wettbewerben eingesetzten Pferden sind darüber hinaus nicht zu beobachten. Diese und andere Vorteile der Offenstallhaltung, die durchaus auch den Geldbeutel des Pferdebesitzers spürbar entlasten, wurden übrigens von Umsteigern auch statistisch erfasst und nachgewiesen.

Trautes Heim

Natürlich muss auch die Offenstallhaltung bestimmten Ansprüchen genügen, um sich wirklich das Prädikat „Besonders pferdvoll“ zu verdienen. Gerade die verbreitete Offen-Schmuddelstallhaltung bringt die ernsthaften Vertreter artgerechter Haltungsformen immer wieder in Verruf. Magere Ponys, die knietief im Matsch stehen und Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert sind, fast ausschließlich Stroh zu beißen kriegen und jedes Wochenende mit Karacho durch die Wallachei gejagt werden, sind ein Fall für den Tierschutz. Artgerechte Haltung verlangt nach Sachverstand, nach Wissen und Erfahrung. Fortbildungen, Fachbücher und vorbildliche Betriebe liefern Anschauungsmaterial aus erster und zweiter Hand.

Zwei wunde Punkte treten im Zusammenhang mit der Offenstallhaltung immer wieder auf. Da ist zum einen die Frage der Hygiene, die eng mit der Gestaltung des Untergrundes, mit der Abtrennung von Funktionsbereichen, mit der Besatzdichte verknüpft ist. Wie auch immer der Stall individuell ausgestaltet wird, jedem Pferd muss zu jeder Zeit eine trockene, saubere Liegefläche zur Verfügung stehen, nie darf das Futter mit Kot, Urin oder anderem Schmutz verunreinigt werden. Der zweite Problempunkt betrifft die Gestaltung der Gruppe, insbesondere die Gruppengröße und – zusammensetzung. Oft werden in bestehende Anlagen neu hinzu kommende Pferde einfach immer dazu gesperrt, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Fluktuation ist hoch, die Gruppen sind zu groß, die Zusammensetzung nicht homogen. Dann natürlich kommt es zu Erkrankungen, Verletzungen, Verspannungen, allerdings nicht aufgrund der Haltungsform, sondern wegen unsachgemäßen Managements – ein gewaltiger Unterschied!

Jede artgerechte Unterbringung wird ergänzt durch ein kompetentes Drumherum: Bedarfsgerechte Fütterung, regelmäßige Impfungen und Entwurmungen, sachgerechte Hufpflege, pferdefreundliche Ausbildung und Erziehung, abwechslungsreiches Training – wir können viel dazu beitragen, unseren Pferden zu einer hohen Lebensqualität zu verhelfen. Ein guter Stall ist nicht alles, aber ohne eine artgerechte Aufstallung ist alles nichts. Warum? Weil Pferde eben den größten Teil ihres Lebens in ihrer Wohnung, in ihrem Stall verbringen, und nur einen Bruchteil zusammen mit ihren menschlichen Freunden. Es zeugt von Arroganz wenn der Pferdefreund meint, durch Zuneigung und Liebesbeweise die Nachteile einer nicht pferdefreundlichen Haltungsform wettmachen zu können – so wichtig sind wir nicht, so wichtig dürfen wir auch nicht sein! Für unsere Pferde ist es am besten, wenn sie einfach nur Pferd sein können, und das 23 Stunden täglich. Wenn sie darüber hinaus jeden Tag eine Stunde Erfüllung in ihrer Rolle als unsere Freunde und Sportkameraden erleben dürfen, umso schöner!

Angelika Schmelzer

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